Einführung
Geopolitische Spannungen erschweren zunehmend den globalen Handel. Um das damit verbundene Ausfallrisiko zu reduzieren, verlagern Unternehmen ihre Handelsbeziehungen auf Handelspartner, die ihnen politisch ähneln. Im Zuge der Anfänge einer geoökonomischen Fragmentierung gewinnen auch für deutsche und europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger politisch und wirtschaftlich gleichgesinnte Länder an Bedeutung. Insbesondere Verbindungsländer1 können eine Gegenkraft zum Trend der Polarisierung im Außenhandel – vor allem zwischen USA und China – bilden: sie zeichnen sich durch eine ausgeprägte wirtschaftliche und handelspolitische Offenheit aus, welche sich über Differenzen geopolitischer oder ideologischer Lager hinwegsetzt. Folglich stellt sich die Frage: Wie lassen sich relevante Verbindungsländer für Deutschland und Europa identifizieren? Welche Chancen und Risiken bieten engere Handelsbeziehungen mit diesen Ländern, um außenwirtschaftliche Resilienz in geopolitisch unsicheren Zeiten zu stärken?
Mit einem hohen Offenheitsgrad – definiert als Summe aus Importen und Exporten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt – von über 80 Prozent2, ist die deutsche Wirtschaft stark in den Welthandel integriert. Dementsprechend wäre die disruptive Wirkung einer geoökonomischen Fragmentierung auf die deutsche Volkswirtschaft überdurchschnittlich groß. Die defensive Strategie zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit Deutschlands, eine handelspolitische Unabhängigkeit zu forcieren, würde die geoökonomische Fragmentierung nur verstärken. Vor dem Hintergrund einer vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Verwundbarkeit ist es erforderlich, jene potenziellen Partnerländer in den Blick zu nehmen, mit denen der deutsche und europäische Außenhandel auch unter der Bedingung einer zunehmenden Fragmentierung auf- und ausgebaut werden könnte. Geoökonomische
Fragmentierung
Mit dem Begriff „geoökonomische Fragmentierung“ wird die politisch motivierte Neuordnung globaler Waren- und Finanzströme beschrieben, bei der strategische, wirtschaftliche sowie politische Interessen vorrangig die Wahl von Herkunfts- und Zielländern für Handelsströme bestimmen.3 Im Szenario einer geoökonomischen Fragmentierung wäre die Folge eine Blockbildung innerhalb der globalen Staatengemeinschaft, wodurch sich die Ordnungsstruktur der globalen wirtschaftlichen Vernetzung grundlegend verändern würde. In diesem Falle dürften sich der Handel und die Investitionen von einem vormals diversen Spektrum an wirtschaftlichen Partnerländern – vor der Blockbildung – auf solche Länder konzentrieren, die nun – seit der Blockbildung – demselben Block angehören.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Szenario eintritt und es zu einer verstärkten Fragmentierung der Weltwirtschaftsordnung kommt, ist in der jüngeren Vergangenheit nochmals gestiegen. So sorgt die zweite Amtszeit Donald Trumps als US-Präsident global für zunehmende geopolitische Unsicherheiten.
Aussagen zur konkreten Ausgestaltung einer möglichen Abgrenzung von potenziellen Blöcken, sind mit sehr vielen Unsicherheiten behaftet. Die Teilung eines großen Teils der Weltwirtschaft in einen „US-Block“ und einen „China-Block“ ist jedoch ein denkbares Szenario, auf das sich die deutsche Politik und Wirtschaft vorbereiten sollte.
Bereits heute zeigen Daten, dass auf globaler Ebene die außenwirtschaftliche Offenheit in der jüngeren Vergangenheit abgenommen hat. Daten der Welthandelsorganisation (WTO) verdeutlichen die zunehmenden Hürden im globalen Warenhandel. Während 2016 noch 3,1 Prozent der globalen Importe durch tarifäre oder nicht tarifäre Handelshemmnisse – darunter auch im Rahmen der WTO-Regeln – betroffen waren, ist dieser Wert über die darauffolgenden Jahre auf 11,8 Prozent im Jahr 2024 angestiegen.4 Diese Entwicklung geht einher mit einem spürbaren Bedeutungs- und Durchsetzungsverlust der WTO seit den 2010er-Jahren, die zuvor eine zentrale Rolle als Wächterin über die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung einnahm.
Untersuchungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) fanden bereits Hinweise auf eine beginnende geoökonomische Fragmentierung entlang potenzieller Blockgrenzen. So zeigt sich, dass der Warenhandel und die ausländischen Direktinvestitionen zwischen Ländern, die im Fall einer Blockbildung dem gegnerischen Lager angehören würden, 2022 und 2023 im Durchschnitt rückläufig waren – anders als der außenwirtschaftliche Austausch zwischen Ländern, die sich geopolitisch nahestehen.5
In dieser Anfangsphase einer geoökonomischen Fragmentierung beginnen sich Verbindungsländer als Gegenkraft zu etablieren, und die sich fragmentierende globale Staatengemeinschaft mit neuen Handels- und Investitionsrouten zusammenzuhalten.
Identifikation von Verbindungsländern
Konkret weisen Verbindungsländer folgende Merkmale auf: eine ausgeprägte außenwirtschaftliche Offenheit in Form einer hohen Außenhandelsquote und geringen tarifären und nicht tarifären Handelshemmnissen, sowie ausgeprägte wirtschaftliche Beziehungen mit Partnerländern unterschiedlicher geopolitischer Lager. Die geopolitische Ausrichtung von Ländern kann anhand von Daten zum Abstimmungsverhalten im Rahmen der Vereinten Nationen untersucht werden.6 Dabei wird analysiert, ob ein Land dem US-amerikanischen oder dem chinesischen Lager zuzuordnen ist – oder, ob keine ausgeprägte Nähe besteht und somit politische Neutralität bzw. „Blockfreiheit“ im Sinne ideologischer Unabhängigkeit vorliegt.
Die datengestützte Identifikation von Verbindungsländern ist relativ neu. Empirische Analysen beschränken sich zudem auf Verbindungsländer vor dem Hintergrund des USamerikanisch-chinesischen Außenhandels – konkret den US-Importen aus China. In diesem Fall lassen sich die Merkmale eines Verbindungslandes auf (1) „Blockfreiheit“ – also eine geopolitische Distanz sowohl zu einem westlichen als auch einem östlichen Block – sowie (2) einem Anstieg der Importe und Auslandsinvestitionen aus China und (3) gleichzeitig gestiegenen Exporten in die Vereinigten Staaten herunterbrechen. Im engeren Sinne handelt es sich hierbei um eine Ausweichreaktion auf Handelsbeschränkungen, also um Umgehungshandel.
Weisen die außenwirtschaftlichen Kenngrößen – konkret die Handels- und Investitionsdaten in Bezug auf die USA und China – von „blockfreien“ Staaten für den Zeitraum von 2017 bis 2020 im Vergleich zu den Vorjahren entsprechende merkmalsbezogene Veränderungen auf, können diese als Verbindungsländer zwischen USA und China identifiziert werden.
Die Analyse von Handelsdaten zeigt, dass der Wert der direkten Exporte von China in die USA während der der ersten Regierungszeit von Donald Trump gesunken ist. Parallel dazu sind sowohl der chinesische Export in einige der „blockfreien“ Länder als auch der Export dieser Länder in die USA deutlich gestiegen. Diese Länder sind vermutlich als Verbindungsglied auf der Exportroute von China in die USA eingesprungen, nachdem der zuvor direkte Handelsfluss durch Handelshemmnisse unterbrochen wurde und einen neuen Weg suchen musste. Es dürften sich also in China produzierende Unternehmen neue, indirekte Wege gesucht haben, den Zugang zum US-amerikanischen Absatzmarkt aufrecht zu erhalten.
Eine gewisse statistische Ungenauigkeit in den Außenhandelsdaten erschwert in diesem Zusammenhang eine definitive Schlussfolgerung. Es gilt zu beachten: In der Erfassung von Handelsdaten kann keine einzelne Ware über Ländergrenzen hinweg verfolgt werden. Ob die zusätzlich importierten Waren aus China tatsächlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten gefunden haben, kann nur näherungsweise angenommen werden. Betrachtet man die Handelsflüsse jedoch aggregiert, zeigt sich ein deutlicheres Bild und der Umgehungshandel über ausgewählte Verbindungsländer – darunter etwa Vietnam und Mexiko – wird sichtbar.
Daten zu ausländischen Direktinvestitionen runden die Analyse ab.7 „Blockfreie“ Länder, in denen zwischen 2016 und 2020 zusätzlich zu den Handelsbewegungen ein chinesischer Investitionsanstieg zu sehen ist, können als Verbindungsländer identifiziert werden. Auch hier lassen vorhandene Daten vermuten, dass die betroffenen Unternehmen entweder ihre Güter über einen Zwischenstopp in die Vereinigten Staaten exportiert haben oder sogar Teile ihrer für den US-Markt bestimmten Produktion in Verbindungsländer ausgelagert haben.
Fünf Verbindungsländer zwischen den USA und China
Unter Rückgriff auf den Untersuchungszeitraum 2017-2020 lassen sich empirisch verschiedene Verbindungsländer identifizieren, die genutzt wurden, um indirekt den Zugang zum US-Markt aufrechtzuerhalten. Zu den – gemessen am Außenhandelsvolumen – wirtschaftlich bedeutendsten Verbindungsländern zählen Mexiko, Vietnam, Polen, Marokko und Indonesien.8 Alle fünf Länder zeichnen sich dadurch aus, dass von 2017 bis 2020 sowohl ihre Warenexporte in die USA als auch ihre Warenimporte aus China deutlich angestiegen sind. Zusätzlich sind im Vergleich zur Periode vor 2017 die Greenfield Investitionen (ausländische Direktinvestitionen, zur Neuerrichtung einer Produktionsstätte) deutlich angestiegen.
Die fünf Länder weisen jedoch in ihrer Entwicklung verschiedene Schwerpunkte auf, die sie in ihrer Rolle als Verbindungsländer zwischen den USA und China unterscheiden. In Vietnam sind vorrangig die Exporte in die USA stark angestiegen. China ist bereits seit Jahren der wichtigste Beschaffungsmarkt für vietnamesische Unternehmen. Polen, Mexiko und Indonesien zeichnen sich als Verbindungsländer vorrangig durch den deutlichen Anstieg der Importe aus China aus. Marokko konnte wiederum vor allem mehr chinesische Auslandsinvestitionen anziehen. Seit 2017 haben sich Greenfield Investitionen hier nahezu verdreifacht. Polen – ein eher überraschender Kandidat für die Rolle als Verbindungsland, da es intuitiv dem US-orientierten Block zugeordnet wird – ordnet sich nach der Analyse des Abstimmungsverhaltens im Rahmen der Vereinten Nationen9 jedoch recht mittig zwischen den USA und China ein. Zusätzlich qualifiziert sich Polen vor allem durch die stark angestiegenen Greenfield Investitionen aus China, vorrangig in den Ausbau der inländischen Batterieproduktion.10
Aus den bisherigen Studien zu den USA und China kann nicht geschlossen werden, ob auch deutsche Unternehmen über die identifizierten Länder Handelshemmnisse aus den USA umgehen. Da sich die handelspolitischen Konflikte zwischen den USA und China deutlich von denen zwischen der EU und China unterscheiden, fehlen bislang vergleichbare empirische Daten zur Analyse von Verbindungsländern im EU-Kontext.
Chancen und Herausforderungen
Da die deutsche Wirtschaft stark auf den Außenhandel ausgerichtet ist und hierbei sowohl mit den USA als auch mit China eng vernetzt ist, nehmen deutsche Unternehmen eine besonders exponierte Rolle im Spannungsfeld zwischen den USA und China ein. Ein verstärkter ökonomischer Austausch mit potenziellen Verbindungsländern böte für deutsche Unternehmen eine Möglichkeit, den erwartbaren Schock durch eine geopolitische Blockbildung abzumildern. Sie könnten den internationalen Handel zumindest in gewissem Grad aufrechterhalten und so einen Teil der gefährdeten Absatz- und Beschaffungsmärkte sichern. Demgegenüber sind mit einem Ausbau der außenwirtschaftlichen Beziehungen zu möglichen Verbindungsländern auch Kosten verbunden. Durch die höhere Komplexität nimmt auch das Risiko in den Wertschöpfungsketten zu. Unternehmen, die sich innerhalb dieses Trade-offs klug positionieren, kaufen sich im Schock-Fall wertvolle Zeit, um sich vor dem Hintergrund veränderter außenwirtschaftlicher Rahmenbedingungen neu zu organisieren.
Auch aus Sicht der Außenwirtschaftspolitik kann geprüft werden, inwiefern eine stärkere außenwirtschaftliche Zusammenarbeit mit (potenziellen) Verbindungsländern Vorteile nach sich ziehen könnte. Der Zielkonflikt zwischen Resilienz und Komplexität ist dann auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, jenseits einzelner Unternehmensinteressen, zu beurteilen. Um Unternehmen den Anschluss an potenzielle Verbindungsländer zu erleichtern und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, kann die deutsche und europäische Politik auf bestehende umfassende Strategien auf nationaler und europäischer Ebene aufbauen. Sowohl die China-Strategie11 als auch die Nationale Sicherheitsstrategie12 richten den außenpolitischen Fokus auf Verbindungsländer im Rahmen einer stärkeren wirtschaftlichen und politischen Risikostreuung. Auch auf europäischer Ebene gibt es mit dem Strategischen Kompass der EU13 einen ähnlichen Rahmen. Hieran anknüpfend könnte die Bundesregierung gezielte Anreize für das Erschließen neuer Märkte in Verbindungsländern schaffen, mit denen kritische Lieferketten diversifiziert und einseitige Abhängigkeiten reduziert würden.
Gleichzeitig stellen Verbindungsländer eine Herausforderung dar. Über diese können außenwirtschaftliche Maßnahmen wie etwa Sanktionen unterlaufen werden, wenn Warenströme via Verbindungsländer leichter als bisher alternative Routen finden können.
Um Chancen zu realisieren und Herausforderungen zu meistern, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Politik und Unternehmen erforderlich. Dafür bedarf es zunächst der Identifikation einer Auswahl an potenziellen Verbindungsländern durch wissenschaftlich fundierte Analyse. Diese schafft die Grundlage für die darauffolgenden Schritte, indem die europäische und deutsche Politik im engen Austausch mit Unternehmen attraktive Rahmenbedingungen für den Handel mit potenziellen Verbindungsländern schaffen – etwa durch bilaterale Handelsabkommen.
Attraktive außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen können den notwendigen Anreiz zum tatsächlichen Ausbau der Handelsbeziehungen mit potenziellen Verbindungsländern schaffen. Für Unternehmen gilt es in Einzelfallentscheidungen abzuwägen und vorausschauend zu entscheiden: Inwiefern besteht das Risiko eines Produktionsausfalls ausgelöst durch geopolitische Konflikte? Und wie sehr würde die Komplexität der Wertschöpfungskette steigen, wenn mehr potenzielle Verbindungsländer einbezogen werden? Letztendlich liegt die tatsächliche Wahl der bevorzugten Absatz- und Beschaffungsmärkte bei den einzelnen Unternehmen.
